Donnerstag, 3. Mai 2012

Im Auge des Tigers



Eine weitere Woche sind wir schon in Indien unterwegs. Nach Khajuraho mit seinen Tempeln fahren wir nach Orchha. Es ist ein kleiner Ort mit grosser Vergangenheit. Überall im Dorf und noch mehr in der Umgebung hat es Ruinen von Palästen, Tempeln und anderen Bauten. Reste mächtiger Befestigungswälle säumen den Fluss. Einst war es eine grosse, mächtige Stadt. Das damalige Herrschergebiet grenzte aber an einen noch mächtigeren Nachbarn, an das Mogulreich. Die Mogulen haben den Islam nach Indien gebracht und wo es nicht anders ging, haben sie keine Sekunde gezögert ihre Schwerte zu gebrauchen. Doch durch eine kluge Politik gelang es den Herrschern von Orchha, die der Hindureligion angehörten, gute Nachbarschaftsbeziehungen zu den Mogulen zu pflegen. Dann änderte sich die Lage plötzlich und die Herrscher mussten fliehen, die ganze Stadt blieb zurück.

Was sie hinterlassen haben lässt staunen. Die Vergangenheit, in Stein gegossen, eine verlassene Stadt. Heute lebt sie wieder als UNESCO Kulturerbe. Das bringt natürlich Geld in die Kassen und Beschäftigung für viele selbsternannte Fremdenführer. Neben dem Verkehr auf der Strasse ist dies die zweite grosse Herausforderung in Indien, diesen Führern zu entgehen. Und ihre Tricks sind raffiniert. Bei allem Verständnis, dass sie ein Einkommen brauchen, möchten wir aber die Sehenswürdigkeiten auf unsere Art erleben, ohne dass wir dauernd in einem Englisch, das noch viel schlechter als das meine ist, mit Dingen bequatscht werden, die wir viel besser im Reiseführer nachlesen können. Also vertrösten wir die Plagegeister auf Morgen und laufen alleine dem Fluss entlang von einer Ruine zur anderen. Manchmal geht es über Getreidefelder, die jetzt abgeerntet sind. Das Getreide wird mit einfachen Maschinen gedroschen und mit Traktoren zur Sammelstelle gefahren. Es ist die Erntezeit in Indien jetzt. Einige Bauern haben die Ruinen in Beschlag genommen und wohnen darin oder benutzen sie als Ställe für ihre Kühe. Aber auch andere Bewohner haben sich in den Türmen der verlassenen Tempel niederlassen, die Geier. Sie haben dort einen idealen Nistplatz gefunden und von den steinernen Balkonen können sie ihr Jagdrevier gut überblicken.
Im Dorf selber steht ein gelb angestrichener Hindu-Tempel, der rege besucht wird. Pilger von Nah und Fern bringen Opfergaben, verneigen sich vor den Gottheiten und beten um Segen. Wir verstehen wenig von dieser Religion, von den Göttern und von der Bedeutung der Kulthandlungen. Heute ist der Andrang besonders gross. Einmal im Monat ist ein Tag, der dem Gott Rama geweiht ist, dann haben die Opfer und Gebete eine besondere Kraft. Wir, unbeteiligten Zuschauer schauen und staunen. Alles ist so verwirrend - so wie ganz Indien verwirrend ist.
Agra, die Stadt des Taj Mahal begrüsst uns mit dem ersten platten Reifen der ganzen Reise. Es hilft nichts, in der Mittaghitze muss ich einen Reifenwechsel mit viel Zuschauer rund herum vornehmen. Ich glaube im Leben der Inder gibt es nicht viel Abwechslung und so kommt eine solche Aktion wie gerufen. Bald bildet sich eine Menschentraube um mich herum und Romy muss höllisch aufpassen, dass nichts aus unserem Besitz verschwindet. Nachdem wir nach einigem hin und her ein Hotel gefunden haben, fahren wir mit einer Motorrikscha zum Taj Mahal. Genau gesagt auf die andere Uferseite, die etwas erhöht liegt. Dort soll der Taj beim Sonnenuntergang besonders schön sein. Und es ist wirklich einmalig, majestätisch, erhaben. Doch, was ist das dort unten am Boden? Ameisen gleich laufen Hunderte, nein, es müssen Tausende von Menschen sein, um das Baudenkmal. Und ich denke, wie es vor 39 Jahren war, als ich dort als junger Mann stand. Da war ich fast alleine…

Am nächsten Tag möchten auch wir das  Mausoleum aus nächster Nähe bewundern. Früh am Morgen hält sich die Anzahl der Besucher noch in Grenzen. Und es ist vielleicht das Beste, das Schönste was Indien zu bieten hat: das grosse Tor durchschreiten und sich langsam dem Taj nähern. Schritt für Schritt, ganz gefangen von dieser Schönheit, der Symmetrie, der vollendeten Form. Das Grabmal hat ein mächtiger Herrscher für seine Lieblingsfrau bauen lassen, nachdem sie bei der Geburt ihres 14 Kindes gestorben war. Ein Denkmal der Liebe, über die Jahrhunderte hinweg bestehend, ewig. Eine Liebe die im Stein gemeisselt allen Unbilden der Zeit widersteht. Schon vor 39 Jahren näherte ich mich andächtig dem im weissen Marmor strahlendem Bau. Damals sagte ich mir: noch einmal im Leben möchte ich diesen Ort besuchen, besuchen mit einer Frau, die ich vom Herzen liebe. Heute bin ich mit Romy hier. Sie ist mit Fotografieren beschäftigt. Ich fühle mich glücklich…
Wir schauen uns noch eine weitere, alte verlassene Stadt, Fatehpur Sikri an, dann wenden wir uns der Natur zu. Zuerst besuchen wir den Keoladeo National Park, bekannt für seinen grossen Vogelreichtum. 

Die Landschaft besteht aus vielen kleinen Seen, eine ideale Lebensumgebung für Vögel. Interessanteweise darf man den Park nur mit einem Velo oder einem Rikscha besuchen. Jetzt in der Trockenzeit sind viele der kleinen Seen ausgetrocknet oder bedenklich geschrumpft. Trotzdem sehen wir sehr viel verschiedene Vögel, aber auch andere Tiere wie Hirsche und Antilopen. Dann geht es über 200 km weiter zu Ranthanbhore National Park. Hier soll in Indien die Chance am grössten sein, einen Tiger in der freien Wildbahn zu sehen. Die Parkverwaltung hat die Anzahl der Besucher streng limitiert. Trotzdem hoffen wir, dass wir eine Tour mit einem Jeep buchen können. Am nächsten Tag, früh am Morgen, geht es los. Die Jeeps sind offene Fahrzeuge mit sechs Plätzen. Jedem Fahrzeug wird von der Parkverwaltung ein Sektor zugeteilt. Wir durchstreifen den Park und bald bekommen wir die ersten Tiere zu Gesicht: Hirschen, Antilopen, verschiedene Affenarten, Mungos, Krokodile, viele Vögel, besonders zahlreich darunter die Pfauen. Die Landschaft ist zu dieser Zeit sehr trocken, viele Bäume haben das Laub abgeworfen. Die Tiere sammeln sich an den wenigen Wasserlöchern. Nur der König des Jungles, der Tiger, lässt sich nirgends blicken. Unser Guide bemüht sich sehr, denn wir haben ihm und dem Fahrer bei einer Tigersichtung ein gutes Trinkgeld versprochen. Doch alles Bemühen hilft nicht – einen Tiger können sie nicht heranzaubern. Und so fahren wir etwas enttäuscht zurück zum Hotel. Nun so schnell wollen wir nicht aufgeben, nach dem Mittagessen buchen wir die Nachmittagstour. Ich will es kurz machen, auch bei der zweiten Tour sehen wir leider keinen Tiger. Das müssen wir so akzeptieren sind aber trotzdem zufrieden. Wir haben ein schönes Stück Natur gesehen, die es in Indien langsam nicht mehr gibt. Der Tiger wäre aber eine noch schönere Zugabe...


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