Sonntag, 27. Mai 2012

Klimawechsel


Amritsar – vor 39 Jahren war es für uns die erste indische Stadt auf dem Hippie-Trail. Seit Pakistan unsicher geworden ist verirren sich nur wenige Langzeitreisende hierher. Heute ist die Stadt hektisch, chaotisch und erstickt im Verkehr. Diesmal aber lasse ich mich nicht von Navi in die engen, verstopften Gassen der Altstadt locken und so finden wir ohne Probleme das Guest House. Amritsar ist vor allem die heilige Stadt der Sikhs. Die Anhänger dieser Religion, an ihren turbanähnlichen Kopfbedeckungen erkennbar, wohnen mehrheitlich hier, im indischen Teilstaat Punjab. Der Goldene Tempel ist der Ort, an dem sie ihre heiligen Bücher aufbewahren, die ohne Unterbrechung gelesen werden. Er ist für sie wie der Vatikan für die Christen oder Mekka für die Moslems.

Manchmal kann man in Indien unerwartete Wunder erleben. Wir durchstreiten das Tor zum Goldenen Tempel und gleich befinden wir uns in einer anderen Welt. War es gerade noch erdrückend, rastlos, lärmig und hetzend, ist hier Ruhe. Sphärische Klänge und Gesänge erfüllen die Luft, die Menschen sind ruhig und freundlich miteinander. Sogar die Hitze scheint nicht mehr so erdrückend zu sein wie sie gerade noch draussen war. Der Goldene Tempel, in dem das heilige Buch der Sikhs gelesenwird, steht auf einer Insel inmitten des heiligen Sees, durch einem Steg mit dem Ufer verbunden. Der letzte Guru bestimmte, dass keine Gurus nach ihm kommen werden, sondern dass das Heilige Buch fortan der Guru sein wird. Die Gläubigen lauschen andächtig den Worte des Vorlesers, bringen Opfer dar und baden im heiligen See. Die Sikhs gelten allgemein als tüchtig und tatsächlich ist hier alles perfekt organisiert. Alle Pilger werden unentgeltlich in einer riesigen Kantine verköstigt.Ttäglich werden mehr als 10 000 Essen ausgegeben. So effizient wie hier wird in Indien selten gearbeitet.

Jetzt haben wir die Hitze endgültig satt. Was sollen wir aber tun? Romy findet die einzig mögliche Lösung – wir müssen in die Höhe. Wir finden sie in Dharamsala auf 1800 Meter. Bis wir dieses Ziel erreichen haben wir etwas zu erdulden. Denn gerade heute findet hier ein wichtiges Kricketspiel zwischen Punjab und Delhi statt. Weil die Inder in Kricket mindestens so vernarrt sind wie die Deutschen in Fussball, sind sämtliche Zufahrtstrassen durch angereiste Fanfahrzeuge blockiert. Nichts geht mehr, stundelang stecken wir im Stau.
Das Städtchen Dharamsala war eine „Hill Station“, wo die britischen Kolonialbeamten in heissen Monaten Erholung suchten. Tatsächlich, hier ist es nur noch 34 Grad – herrlich. Endlich können wir wieder tief durchatmen. 1959, als die Chinesen Tibet besetzten und viele Tibeter fliehen mussten, hat die indische Regierung dem Dalai Lama in diesem Ort Exil angeboten. Etwa 10`000 Tibeter sind ihm seither gefolgt. Und so fühlen wir uns hier fast wie im Tibet. Gebetsfahnen flattern im Wind, Mönche in roten Roben eilen hin und her und Frauen in typisch tibetischen Kleidern beherrschen das Strassenbild. Statt „Namaste“ hören wir wieder „Tashi Delek“ und „O mani padme hum“ klingt aus den Lautsprechern. Wir besuchen verschiedene Tempel und sogar eine typisch englische Kirche aus der Kolonialzeit finden wir. Vor allem aber geniessen wir das angenehme Klima. Leider ist der Dalai Lama nicht zu Hause, er ist irgendwo im Ausland unterwegs. 
Sowieso sind die Zeiten, wo man als normaler Sterblicher beim ihm eine private Audienz bekommen konnte, längst vorbei. Der ganze Exilregierungkomplex ist mit hoher Mauer und Stacheldraht umgeben und von indischen Sicherheitskräften bewacht. Nur der grosse Tempel ist der Öffentlichkeit zugänglich.

Nach drei geruhsamen Tages müssen wir wieder hinunter in die Hitze, aber nur für zwei Tage. Unser Ziel ist Srinagar in Kaschmir, das sich durch ein mildes Klima auszeichnet. Doch der Weg hat es in sich. Viele Inder haben zur Zeit Ferien und sie haben das gleiche Ziel wie wir– der Hitze zu entfliehen. So ist die kurvige Bergstrasse völlig verstopft, denn zu ihnen gesellen sich die untermotorisierten Lastwagen und viele Militärkonvois. Langsam, sehr langsam kommen wir voran. Kaschmir ist  seit Jahrzehnten ein Zankapfel zwischen Indien und Pakistan, schon drei Kriege wurden ausgefochten zwischen diesen Ländern und die Grenze besteht nur aus einer Demarkationslinie. Neu kommen dazu noch islamische Fundamentalisten, die im Geheimen von Pakistan unterstützt, für einen Anschluss an Pakistan kämpfen. Darum begegnen wir Soldaten und Sicherheitseinheiten auf Schritt und Tritt. Im Moment ist die Lage ruhig und entspannt, wie uns die Einheimischen bestätigen.
In Srinagar wohnt man auf einem Hausboot. Sie liegen - vielleicht zu Hunderten - vertäut am Ufer des Dal-Sees. Diese Tradition haben die Engländer eingeführt. Sie suchten in dem angenehmen Klima Erholung in den heissen Sommermonaten und die Gegend war ideal dafür. Der Maharadscha hat ihnen nicht gestattet hier Land zu erwerben um Häuser zu bauen. Die Lösung waren die Hausboote. Teils sind es recht grosse Ungetümer mit bis zu vier Schlafzimmern, einem Salon und natürlich mit einem Badezimmer mit Badewanne. Auch ein Balkon über dem Wasser fehlt nicht. Die Boote sind mit altenglischen, aus Holz geschnitzten Möbeln ausgestattet. Heute sind es indische Touristen, die hier Ferien machen. Wie wir bei den Einheimischen herausgehört haben, sind sie aber nicht besonders beliebt. Sie fallen in Horden ein, sind laut und lassen viel Abfall liegen (dieses Vorurteil müssen wir leider bestätigen). Doch sie bringen Geld und so sind zurzeit praktisch alle Hausboote belegt. Nur über den Kontakt mit einer Schweizerin, die hier mit einem Kashmiri verheiratet ist, bekommen wir ein etwas bescheidenes Hausboot, denn wir möchten hier in Ruhe ein paar Tage ausspannen. Und so sitzen wir nun auf der Terrasse über dem Wasser, Ruderboote gleiten vorbei, Leute winken uns freundlich zu, Wasservögel kreisen am Himmel, die Sonne scheint, gerade wird uns ein gut englisches Frühstück serviert – was kann man sich noch mehr wünschen... 

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