Donnerstag, 15. September 2011

Vergangenes Königreich, heiliger Berg und Atemnot

Unser Weg führt uns ausnahmsweise in eine etwas tiefer gelegene Gegend. Über einen 5000-er Pass kommen wir nach Tsada, einer kleinen Stadt, die auf etwa 3700 Meter liegt. Die Landschaft, die hier der Fluss Sutlej in uralte Sedimente eingegraben hat, ähnelt dem Grand Canyon. Zwar ist er nicht so tief, aber in der Vielzahl und Verschiedenheit der Formen ebenbürtig.
Und auch die Geschichte hat hier ihre Spuren hinterlassen. Hier in der Nähe lag das berühmte Königreich von Guge. Ein Berg, einsam in einer Ebene über dem Fluss gelegen, beherbergte die Hauptstadt des Reiches. Unzählige Wohnhöhlen, Gebäude und Tempel hat man damals in den Berg gegraben. Vor allem aber Treppen. Bis wir an den Gipfel gelangen, wo der Königpalast steht, müssen wir etliche Treppen überwinden und viele Pausen einlegen und immer wieder geduldig warten bis unser Puls in normale Höhen zurückkehrt. Der Königspalast wurde neu errichtet nachdem die Roten Garden während der Kulturrevolution alles dem Boden gleich gemacht hatten, eine Zerstörungswut, die aus heutiger Sicht unbegreiflich erscheint. Jetzt gibt die chinesische Regierung viel Geld aus, um das Zerstörte wieder aufzubauen. Erstens, weil der Tourismus eine gute Geldquelle ist, und zweitens, um der ganzen Welt zu dokumentieren, wie gut sie sich um die Minderheiten sorgt. Ja, leider sind heute die Tibeter eine Minderheit in ihrem eigenen Land. So wird fleissig an den alten Tempeln gebaut. Meistens wird aber nur das Äussere hergestellt, für den Innenausbau fehlen schlicht die Handwerker und Künstler.
Nach einigen Hundert Kilometern Weiterfahrt erscheint am Horizont plötzlich ein Berg. Es ist nicht irgendein Berg, es ist der heilige Berg Kailash. Den Tibetern und den Indern gleichermassen heilig, wird er von mehreren Religionen als der Mittelpunkt der Welt betrachtet. Um den Berg, der wegen seiner Heiligkeit nicht bestiegen werden darf, führt ein dreitägiger Pilgerweg, Kora genannt. Auch wir wollen uns den vielen Pilgern auf ihrem Weg anschliessen, einem Weg, der es in sich hat. Zwar sind die Tagesetappen mit 20 Kilometer nicht all zu lang, doch die Höhe macht es. Der Ausgangspunkt in einem kleinen Ort Darchen liegt auf 4560 m, der höchste Punkt am Pass Drölma La gar auf 5636 m. Früh am Morgen geht es los. Zuerst ist der Weg ganz harmlos, langsam ansteigend in einem Flusstal. Nur das Wetter spielt nicht mit, es regnet leicht und der heilige Berg hüllt sich in Wolken. Am späten Nachmittag erreichen wir ein Kloster, dem ein Gästehaus angegliedert ist. Dort bekommen wir ein schäbiges Sechserzimmer, kalt und mit schimmeligen Wänden. Ich wage zu behaupten, dass nur eine kleine Prozentzahl der Leute, die wir kennen, hier freiwillig übernachten würde. Es gibt aber nichts Besseres. Einzige Alternative ist das Zelt. Doch im starken, kalten Wind und Regen ist es wirklich keine Alternative. Zum Ersten Mal ist unsere Gruppe unter einem Dach vereint. Auch das „Restaurant" des Gasthauses bietet nicht viel: chinesische Standardnudelsuppe (heisses Wasser eingiessen, fünf Minuten warten, fertig, essen) oder gebratener Reis mit Eiern. Waschgelegenheit bietet einzig der eiskalte Bach. Mit Berichten über die 50 Meter entfernte Toillete verschone ich die Leser lieber. Am nächsten Tag gibt es kein Frühstück, denn die Wirtsleute schlafen noch als wir aufbrechen. Unsere Gruppe hat sich aufgeteilt in Fussgänger und Berittene. Romy, Christine und Nuria werden wegen den zu erwartenden Widrigkeiten den Weg auf dem Pferderücken bewältigen; ich, Johanna, Florian, Bianca und Fabian zu Fuss. Heute geht es über den Pass und der Aufstieg beginnt gleich nach dem Gasthaus. Meter um Meter steigen wir, nein, wir kämpfen uns hoch. Mit zunehmender Höhe wird der Atem kürzer und die Pausen länger. Trotzdem bekommt der Körper nicht so viel Sauerstoff wie er braucht. Wir haben zwar als eine Sicherheitsmassnahme jeder eine Sauerstoffflasche bekommen, die wie eine grosse Spraydose aussieht und sehr leicht ist. Ob sie im Notfall helfen würde? Allein die Anwendungsanleitung in Chinesisch stimmt schon bedenklich. Die indischen Pilger haben noch mehr Probleme, da sie nicht genug akklimatisiert sind. Auf dem Weg liegen unzählige Ampullen von einem, wie wir vermuten, Aufputschmittel, das sie verwenden. Keuchend beginne ich Romy um ihren Ross zu beneiden. Immer wieder meine ich, der Pass liege schon in Sichtweite, doch es geht weiter hoch und noch höher. Die Schönheit der Bergwelt um mich herum kann ich kaum wahrnehmen. Zehn Meter, ein Stein, wo ich absitzen kann, und lange, sehr lange atmen, bis sich der Atem und Herzschlag normalisiert haben. Dann weiter, die nächste zehn Meter. Anderen Pilgern geht es nicht besser. Nur Fabian läuft unbeschwert als ob es sich um eine Wanderung auf den Uetliberg handeln würde. Natürlich beneide ich auch ihn, aber er ist um 35 Jahre jünger. Endlich markiert ein Meer von Gebetsfahnen den Scheitelpunkt des Passes. Die Pilger lassen hier ein Stück von ihrer Kleidung oder wenigstens eine Haarsträhne liegen. Ihnen bringt diese Wanderung das Nirwana ein Stück näher. Vielleicht auch uns? Wer weiss? Der Abstieg ist steil, doch muss man nicht mehr mit der Atmung kämpfen. Auch Reiter müssen vom Pferd absteigen und zu Fuss laufen, denn der Abstieg ist zu gefährlich. Dann laufen wir noch 13 Kilometer in einem Tal, leicht absteigend, bis zum nächsten Gasthaus. Dort geht es uns genau gleich wie in dem Ersten. Kein bisschen besser, nur die Reisportionen sind etwas grösser. Der dritte und letzte Tag ist dagegen leicht. Nur etwa 12 Kilometer und wir sind zurück beim Ausgangspunkt. Doch die Beine sind schwer und die Kilometer ziehen sich in die Länge. Endlich sehen wir das Dorf hinter einer Talbiegung. Mit einem üppigen Essen beschliessen wir diese Pilgerwanderung, die bis an unsere Grenze und teilweise darüber hinausgegangen ist. Nun fahren wir zum Manasarovar See, wo ein Erholungstag geplant ist. Leider kommen wir dort wegen einer Panne am Landrover von Christine erst bei Dunkelheit an. Das ersehnte Duschen müssen wir auf Morgen verschieben. Umso mehr geniessen wir dann die heissen Quellen, die es beim See gibt. In einem grossen Holzbottich voll heissen Wassers vergessen wir die Strapazen der letzten Tage schnell. Wie neugeboren steigen wir aus dem herrlich warmen Wasser aus. Bereit für nächste Herausforderung...

2 Kommentare:

Sigi hat gesagt…

Wow! Ich bin beeindruckt! Und natürlich auch ein bisschen traurig, dass wir nicht dabei sind. Ich freue mich auf die Bilder.
Wir sind inzwischen zurück in Deutschland und fliegen am Freitag weiter nach Indien. Dort geht es dann mit Bahn und/oder Motorrad weiter.
Euch weiterhin eine tolle Fahrt durch Tibet.

Marlise hat gesagt…

Herzlichen Glückwunsch zur Umwanderung/Umreitung des heiligen Kailash. Tolle Leistung was ihr da macht und unter diesen Umständen....puh - das wäre nichts für mich!!! Gute Weiterfahrt